Die erste Frühlingsausfahrt

Jedes Frühjahr kommt dieser eine Tag. An dem ich aufstehe, aus dem Fenster schaue und entscheide: Heute ist der erste kurze-Hosen-Tag des Jahres. Und das muss nicht unbedingt etwas mit der tatsächlich herrschenden Temperatur zu tun haben. Aber dieser erste Tag im Frühling mit richtig viel Sonnenschein ist einfach zu schön, um in langen Hosen Rad zu fahren. Da geht es schon allein um den psychologischen Effekt – es sieht sommerlich aus, also hat es sich auch gefälligst so anzufühlen. Mein ganz persönlicher Befreiungsschlag gegen den winterlichen Zwang, sich nur als Michelinmännchen hinaus wagen zu können – oder halt gar nicht, wie von mir in diesem Winter ausgiebig praktiziert. Warum sollte ich auch: Keine Zeit, keine Ziele, keine Probleme, genügend Ausreden zu finden.

14 Grad sind angesagt laut Wetterbericht, auf unserem Südbalkon sind es gegen 11 Uhr Vormittag sicherlich schon 16 Grad. Quasi Bikini-Wetter! Unser Stachelbeerstrauch sieht das auch so und treibt schonmal kräftig aus. Und damit keine Zweifel aufkommen, dass wir seriöse Athleten sind, fahren wir nicht irgendwohin, nein! Das Mountainbike wird gesattelt und die nächste größere Erhebung angepeilt. Wer braucht schon Training? Pah.

Mit diesen überaus hervorragenden Voraussetzungen machen wir uns auf, ich in kurzen Hosen und Option auf kurzes Trikot, und radeln den Inn hinauf Richtung Süden. Ganz klar, es sieht zwar flach aus, aber so eine flussaufwärtse Fahrt darf man nicht unterschätzen. Die Anfangsgeschwindigkeit ist hoch – Frühling! Sonne! Übermut! – lässt aber sehr schnell nach. Diese minimale, kaum bemerkbare Steigung zieht sich eben… Ihr versteht.

15 Kilometer später kramen wir die ersten Zucker-Gels aus den Trikottaschen. Eigentlich habe ich diese Überbleibsel vom 24-Stunden-Rennen nur mitgenommen, falls wir ganz notfallmäßig in den Hungerast rutschen auf der Heimfahrt und die Dunkelheit droht. Jetzt sind die drei Gels (Geschmacksrichtung „Grüner Apfel“, wie passend zum Erblühen der Natur!) schon vor Beginn des Anstiegs weg, es ist früher Nachmittag und wir völlig fertig. Tja. Dann müssen wir uns wohl mit Kaiserschmarrn oben auf der Alm stärken für die Rückfahrt.

Und spätestens, als sich unser Ziel auf der anderen Innseite vor uns auftürmt, beschleicht mich der Verdacht: Das könnte heute etwas anstrengend werden.

Der Heuberg. Ein schöner Berg, 1300 Meter hoch, von vielen Seiten begehbar und, ideal für Mountainbiker, mit einer kleinen Straße versehen, dank der man ihn erklimmen, in eine nette Almwirtschaft einkehren und dann über Trails wieder hinab sausen kann. Toll!

Das ist das Gute daran, wenn man in Rosenheim wohnt: Die Berge sind ganz nah. Nach gerade einmal 15 Kilometern ist man mittendrin im Alpenpanorama. Und das ist das Schlechte daran, wenn man in Rosenheim wohnt: Die Berge sind ganz nah. Nach gerade einmal 15 Kilometern ist man mittendrin in der Selbstüberschätzung.

Zwischen uns und dem wohlverdienten Kaiserschmarrn oben auf dem Heuberg steht jetzt nur noch ein 3,5 Kilometer langer Weg. Wissen für Detailliebhaber: Die Steigung liegt durchschnittlich bei knapp 13 Prozent. Und wir werden nicht geschont, von Anfang an geht der Weg unerbittlich steil nach oben. Kleinster Gang und bloß nicht stehenbleiben.

Der Plan funktioniert semigut. Nach 200 Metern muss ich zum ersten Mal anhalten, Hitzestau. Runter mit dem langen Trikot und weiter in kurz-kurz. Der Kaiserschmarrn ruft! Zwischen ersten zarten Krokusblüten schlängelt sich die kurvige Straße bergan. Irgendwie ging das letzte Saison noch etwas einfacher… aber wenigstens der Ausblick ist noch genauso schön wie bei der Ausfahrt letzten Herbst.

Etwa einen Kilometer vor dem Ziel tauchen erste Kaiserschmarrn-Fata-Morganas in der Ferne auf. Die Beine brennen, der Sattel drückt, die Finger um den Lenker sind verkrampft vom ständigen Bergauf. Ein bisschen Beeilung ist langsam geboten, schließlich wird’s noch recht früh dunkel.

Doch dann folgt der Tiefschlag: wir biegen um die nächste Kurve und fahren plötzlich auf und durch 10 Zentimeter hohen Rutsch- und Matschschnee. Fahren ist kaum möglich. Die Enttäuschung ist groß, halbherzig versichern wir einander gegenseitig, dass der Schnee nach der nächsten Kurve bestimmt wieder weg ist und stapfen zu Fuß voran. Kurze Hosen im Schnee und Schnee in den Radschuhen.

Wir biegen um die Kurve und sehen… weiße Pracht, soweit das Auge reicht, dafür ist von der Straße leider nur wenig zu sehen. Unsere Kaiserschmarrnträume platzen wie Seifenblasen. Zum Umdrehen gibt’s keine Alternative, denn hochfahren geht nicht und zu Fuß hinauf sind wir zu langsam, um es vor der Dunkelheit nach Hause zu schaffen.

Also wenden wir die Räder und rauschen mit quietschenden Bremsen hinunter. Der Bauch grummelt, die Beine sind weich wie Gummi und vor allem kalt, der Weg nach Hause ist noch viel zu weit. Die Dunkelheit droht und, hach, so ein Notfall-Hungerast-Gel wäre jetzt die Rettung.

Wir überbieten uns die nächsten 25 Kilometer in Sachen Selbstmitleid gegenseitig, schaffen es gerade so im letzten Dämmerlicht nach Hause und sind uns völlig einig: Nächstes Jahr, bei der ersten Frühlingsausfahrt, dann sind wir ganz sicher schlauer. Vielleicht.

Carolyn Ott-Friesl

Seit fast 20 Jahren auf dem Rennrad unterwegs - nicht viel, nicht schnell, aber mit Leidenschaft. Seit 2014 Bloggerin auf Ciclista.net
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