Ventoso kritisiert die UCI: So gefährlich können Scheibenbremsen am Rennrad sein

Ganz ehrlich: Ich habe mich getäuscht. Ich dachte, dass alle, die vor Scheibenbremsen am Rennrad als Gefahr warnten, einfach nur Angst vor Veränderungen und vor Fortschritt hätten. Schließlich hört man ja auch nichts von schlimmen Unfällen bei Mountainbikern, die mit Scheibenbremsen zu tun hätten. Ich ging davon aus, sass Scheibenbremsen an den Rennrädern der Profis sogar vor allem positive Auswirkungen hätten: verbesserte Bremsleistung und weniger Schlauchplatzer in Abfahrten durch die Bremswärme. Diese Vorteile sind sicherlich immer noch da, aber offensichtlich stellen Scheibenbremsen neben technischen Aspekten wie dem schwierigeren Laufradwechsel ein großes Sicherheitsproblem dar: Sie sind scharf wie Messer – jedenfalls hat Haut und Fleisch keine Chance, wenn es mit hoher Geschwindigkeit auf die Metallscheiben trifft.

Das zeigt die schlimme Verletzung von Francisco Ventoso (Team Movistar), die er sich bei Paris-Roubaix am Sonntag zuzog. Die Bilder sind definitiv nichts für zart besaitete Menschen, viel Blut und viele Stiche, mit denen die große Wunde zusammengetackert werden musste. Umso verständlicher, dass er sich jetzt mit einem offenen Brief auf Facebook an den Radsportverband UCI wendet, in dem er deutlich macht, dass er nichts von Scheibenbremsen hält. (facebook.com)  Den ganzen Brief gibt es auf Deutsch weiter unten.

 

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Laut Ventoso sei sogar noch ein weiterer Fahrer, Nikolas Maes, auf die gleiche Weise verletzt worden. Zwei Profis mit schweren Schnittwunden, und das, obwohl nur zwei Teams mit Scheibenbremsen im Rennen unterwegs waren. Man will nicht zu Ende denken, was herauskommt, wenn man das hochrechnet auf ein komplettes Fahrerfeld mit Scheibenbremsen.

Was ist jetzt die Lösung des Problems? Ich denke immer noch, dass Schreibenbremsen am Rennrad nicht nur negativ gesehen werden sollten. Allerdings müssen Radhersteller sich schnellstens Gedanken machen, wie diese Technik sicherer gemacht werden kann. Vielleicht mit Abdeckungen der Scheiben oder mit anderer Konstruktion? Ich denke, es hängt stark davon ab, ob es den Herstellern gelingt, diese Technik tauglich zu machen für das Rennrad – dann können Scheibenbremsen am Rennrad die Zukunft sein, wie Daniel auf seinem Blog schreibt. (albis-blog.de) Wenn wir allerdings noch mehr solcher Unfälle während der Rennen sehen werden, wird diese Technik schnell wieder in die Bereiche zurückgehen, wo sie hergekommen ist: In den Geländesport.

 

UPDATE: So schnell kann es gehen! Als Reaktion auf die Vorkommnisse vom Sonntag und die zahlreichen Reaktionen darauf erlaubt die UCI ab sofort keine Scheibenbremsen mehr in Profi-Straßenradrennen. (cyclingnews.com)

Der offene Brief von Francisco Ventoso zu Scheibenbremsen am Rennrad

Der komplette Brief von Francisco Ventoso aus dem Englischen übersetzt (ohne Gewähr auf Vollständigkeit und Korrektheit, ich bitte um Quellenangabe bei Zitaten daraus, ist selbst übersetzt):

 

Über Scheibenbremsen

Ich habe dreizehn Jahre im Profi-Peloton verbracht und noch einmal dreizehn Jahre, in denen ich in den Jugendkategorien gefahren bin. Das macht zusammen 26 Jahre auf dem Rad, jeden Tag Training, das genießen, was ich am liebsten tue, meine Leidenschaft. Seit ich sechs Jahre alt bin, liebe ich es, Rennen zu fahren und tue es immer noch. Ich bin so glücklich, dass ich meine Berufung zu meinem Traumberuf machen konnte.

Wie in jedem anderen Sport entwickelt sich der Radsport in vielerlei technischen Aspekten. Dafür hat er sich in anderen Bereichen nicht so entwickelt, wie wir uns das gewünscht hätten.

In all diesen Jahren war ich Zeuge vieler Verbesserungen unterschiedlicher Fahrradbauteile und der Bekleidung. Wir begannen mit Stahl, dann Aluminium und später Carbon, das schließlich gekommen war um zu bleiben, da es steif und gleichzeitig sehr leicht ist. Wir haben aufgehört, unsere Füße in Riemenpedale zu stecken und haben nun Klickpedale, viel angenehmer, effektiver und sicherer. Die Tage, in denen wir Sturzringe auf dem Kopf trugen, sind lange vorbei. Moderne Helme sind leichter, schön anzusehen und bieten absolute Sicherheit, wenn man sie denn trägt.

Ich habe außerdem viele wichtige Verbesserungen in Sachen Antrieb erlebt. Mein erstes Fahrrad hatte ein Kettenblatt und drei Ritzel; Jetzt haben wir zwei oder sogar drei Kettenblätter und elf Ritzel… und ich bin mir sicher, wir sind noch nicht am Ende der Entwicklung angelangt. Technologische Entwicklung war immer eine Art Versuch und Irrtum: Zu diesem Punkt zu kommen, war nicht einfach. Ich erinnere mich, wie einfach Ketten früher gerissen sind, als wir erstmals zehn Ritzel benutzten. Glieder, die brachen, weil das Material noch nicht so widerstandsfähig war wie nötig. Und das passiert heute immer noch. Wir könnten auch über die Revolution sprechen, die die elektronische Schaltung hervorbrachte. Als sie zuerst vorgestellt und benutzt wurde, waren wir alle überrascht und hatten Vorurteile: Es ist nicht nötig, es könnte nicht funktionieren, Batterien umherfahren fühlt sich falsch an, das Rad an den Strom anzuschließen ist verrückt… Und jetzt könnten wir uns unsere Räder nicht mehr ohne vorstellen.

Mein Punkt ist:  Vor zwei Jahren sahen wir erstmals Scheibenbremsen an Cyclocross-Rädern und schnell gab es Gerüchte, dass sie auch auf der Straße zum Einsatz kommen könnten.

Zuvor möchte ich klarstellen: Ich bin mehr als jeder andere dafür, dass Cyclocross-Profis oder Jedermann-Teilnehmer die Vorteile von Scheibenbremsen auskosten.

Aber auf der anderen Seite sind die Profi-Radrennen. Gab es wirklich jemanden, der gedacht hat, dass Dinge wie die am Sonntag nicht passieren würden? Wirklich niemand dachte, Scheibenbremsen wären gefährlich? Niemand bemerkte, dass sie schneiden können, dass sie gigantische Messer werden können?

Bei Paris-Roubaix haben nur zwei Teams Scheibenbremsen benutzt. Mit je acht Fahrer macht das sechzehn Profis, die insgesamt 32 Scheibenbremsen ins Fahrerfeld brachten. Ich nehme Euch mit zu Kilometer 130 im Rennen: Während eines Pavés ereignete sich ein Massensturz, der das Feld spaltete, überall gestürzte Fahrer. Ich muss bremsen, kann aber nicht verhindern, dass ich in den Fahrer vor mir crashe, der ebenso versuchte, die Gestürzten vor ihm nicht zu treffen. Ich bin eigentlich gar nicht hingefallen: Nur mein Bein berührt das Hinterteil seines Fahrrads. Ich fahre weiter, doch wenig später werfe ich einen Blick auf mein Bein: es tut nicht weh, da ist nicht viel Blut aber ich kann eindeutig einen Teil des Periosts sehen, die Membran oder die Haut, die meinen Schienbeinknochen bedeckt. Ich steige ab vom Rad, werfe mich auf die rechte Seite der Straße ins Gras, grabe mein Gesicht in meine Hände vor Schock und Unglauben und mir wird schlecht… Ich konnte nur auf mein Teamfahrzeug und die Ambulanz warten, während mir viele Dinge durch den Kopf gingen.

Nur eine Pechsträhne? Ich denke nicht: wenige Kilometer später wurde einer der Gedanken, die ich in meinem Hinterkopf hatte, Realität.

15 Kilometer nach meinem Vorfall kommt Nikolas Maes, ein Fahrer von Etixx-Quick Step, in den selben Krankenwagen, in dem ich gerade sitze. Er hat eine tiefe Wunde am Knie, von einer anderen Scheibenbremse stammend, einer der 32. Eine Frage kommt unvermeidlich und sofort auf: Was passiert, wenn 396 Scheiben in einem Rennen unterwegs sind, in dem 198 Fahrer wild um Positionen kämpfen?

Scheibenbremsen hätten NIEMALS im Fahrerfeld ankommen dürfen, zumindest nicht so, wie wir sie jetzt kennen. Ich traf bisher noch keinen Fahrer, dem die Bremskraft mit traditionellen Bremsen versagte; Ich habe noch nie jemanden getroffen, der noch nie schliddernde Reifen erlebte, wenn er mit aller Kraft bremst, egal ob traditionelle oder Scheibenbremsen. Daher: Warum sollte man sie benutzen?

Umgekehrt gibt es viele Probleme beim Laufradwechsel nach einem Defekt: noch mehr Probleme für den neutralen Materialservice, der drei oder vier verschiedene Laufradsätze mitschleppen muss, um zu helfen, falls der Teamwagen nicht zur Stelle ist… und am meisten sorgt mich, dass, wie ich schon feststellte, dass Scheibenbremsen ihrem Konzept nach riesige Messer sind, sogar „Macheten“, wenn man sie mit einer gewissen Geschwindigkeit trifft. Und manchmal erreichen wir 80, 90, 100 Kilometer pro Stunde.

Ich hatte Glück: Mein Bein wurde nicht abgeschnitten, nur etwas Muskeln und Haut. Aber kannst Du Dir vorstellen, wie die Scheibenbremse eine Halsschlagader oder die Oberschenkelvene durchschneidet? Ich stelle es mir lieber nicht vor.

All das passiert, weil der internationale Verband der Radprofis – CPA -, nationale Fahrerorganisationen, internationale und nationale Verbände, Teams und vor allem, WIR RADPROFIS, nichts dagegen tun. Wir denken immer, dass es kein Problem ist, solange es uns nicht passiert. Wir warten immer ab, bis schreckliche Dinge passieren, bevor Maßnahmen ergriffen werden. Früher oder später kann es jeden treffen: Es ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit, wir haben alle dieselbe. Radprofis sollten einen Blick über den Tellerrand werfen. Andere sagen uns, was wir zu tun haben, aber wir dürfen einfach nicht vergessen, dass WIR DIE MACHT HABEN ZU WÄHLEN UND WIR SOLLTEN WÄHLEN.

Scheibenbremsen schneiden. Diesmal war ich es; morgen kann es schlimmer sein und anderen passieren.

Francisco Ventoso, facebook.com

Carolyn Ott-Friesl

Seit fast 20 Jahren auf dem Rennrad unterwegs - nicht viel, nicht schnell, aber mit Leidenschaft. Seit 2014 Bloggerin auf Ciclista.net
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Helm* - Brille* - Bluetooth-Kopfhörer* - Radsportbekleidung* - Radsportcomputer*

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