Sechstagerennen – Stoff für Legenden

Hallenstadion Zürich. Samstag, 18 Uhr. Auftakt für ein Relikt aus vergangenen Tagen, in denen Radsport noch die Massen begeistern konnte. Als es noch Helden gab, die tausende Zuschauer zu den zahlreichen Radrennbahnen lockten. Zu Bahnen in ganz Deutschland, von denen es die meisten heute nicht mehr gibt. Die Leute kamen, um sich zu amüsieren, um Dramen und Triumphe zu erleben. Um den Fahrern nah zu sein, die damals zu Legenden wurden. Eine Zeit, in der Bertolt Brecht und Ernest Hemingway zu den Anhängern des Bahnradsports zählten und die Popularität des Berliner Sportpalastwalzers mit den vier Pfiffen ihren Ursprung hat.

 

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Auf den aufsteigenden Rängen der Tribüne im Zürcher Hallenstadion sind kurz nach Einlass nur wenige der dunkelblau gepolsterten Klappsitze besetzt. Auf der ovalen Holzbahn kreisen die Nachwuchstalente. Der Wettkampf der unter 23jährigen ist das Vorprogramm für die Profis. Die sprinten später um den Gesamtsieg nach vier Tagen Sixday-Nights. Erst einmal die letzte Ausgabe, wie sich einige Monate später herausstellen sollte.

Sixdays Zürich 2014
Die Bahn in Zürich ist vor dem Start in blaues Licht getaucht.

 

Nach einer halben Stunde haben die Nachwuchsfahrer ihre Sieger gefunden, die Bahn ist wieder leer. Dafür werden die Tribünen und der Innenraum immer voller.  Die Platzanweiser zeigen den neu eintrudelnden Zuschauern sofort ihre Sitze, damit niemand zu lang im Gang steht. Im Fahrerlager verschnaufen die U23-Fahrer und räumen nach und nach den Platz für die Profis. Mechaniker überprüfen noch einmal die Räder. Einige Profis drehen die ersten Runden im Oval, Scheinwerfer tauchen die Bahn in blaues, diffuses Licht.

Bis 2010 fanden in Zürich Sixdays über volle sechs Tage statt, klassische Sechstagerennen. Aber immerhin, es gibt sie noch, wenn auch nur über vier Nächte. Andere mussten aufgeben, wie die Veranstalter in Stuttgart oder München. Die Zuschauer blieben einfach weg, genau wie die Sponsoren. Es gibt heutzutage einfach zu viele andere Möglichkeiten, um sich abends zu amüsieren. Große Namen wie Zabel oder Aldag zogen nicht mehr. Die Dopingskandale des Radsports waren der endgültige Sargnagel. In Deutschland gibt es nur noch die Rennen in Bremen und Berlin.

In Zürich steht jetzt die Fahrervorstellung auf dem Programm, die Athleten fahren in Zweierreihe über die Bahn. Aus den Lautsprechern donnern Stadionhymnen und der Hallensprecher stellt dem Publikum im Schweizer Dialekt Welt- und Europameister vor, die oft nur den Radsportenthusiasten bekannt sind. Die 12 Zweierteams in bunten Trikots werden mindestens mit höflichem Applaus bedacht, die Schweizer Lokalmatadoren und der Star der diesjährigen Sixday-Nights, Topsprinter Mark Cavendish, werden laut bejubelt.

 

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Showtime!

 

Und dann geht es auch schon los. Erste Wertungssprints, die „kleine Américaine„. Zuschauer und Fahrer werden langsam warm. Die Rennfahrer sind tief über ihre Lenker gebeugt, die Bahnräder ohne Bremsen und Freilauf verlangen immer höhere Trittfrequenzen. Gekonnt suchen die Fahrer sich ihren Weg durch das Feld. Weichen schnell aus, wenn einer im Weg fährt und werfen sich im Wechsel gegenseitig ins Rennen. Die Beine kurbeln immer schneller und glänzen vom Schweiß. Die Holzplanken grollen, lange bevor das Fahrerfeld vorübersaust.

200 Meter lang ist die Bahn in Zürich auf der Ideallinie. Zwei Geraden, zwei Kurven, die sich steil nach oben türmen. Wer nicht abrutschen will, muss schnell genug sein. Dafür ist es so kaum mehr möglich, von der Bahn nach außen geschleudert zu werden. Das war früher, als die Bahnen flacher konstruiert waren, nicht so.

 

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Zwischen den Rennen können sich die Sportler im Fahrerlager erholen.

 

In der Anfangszeit des Bahnradsports waren die Zuschauer zwar auch von der sportlichen Leistung der Fahrer beeindruckt. Spektakulärer aber waren die häufigen Unfälle, die oft tödlich ausgingen und Stoff für Legenden boten. Auch heute passieren immer wieder Stürze, glücklicherweise gibt es aber kaum noch tödliche Unfälle.

In Zürich gab es am Vorabend auch einen Sturz. Andreas Müller und Andreas Graf verpatzten den Wechsel und sind heute beide bandagiert am Start. Keine Ausreden. In allen Rennen greifen sie an, auch wenn sie keine Chance mehr auf den Gesamtsieg haben.

Zahlreiche kurze Wettbewerbe gibt es den ganzen Abend über. Rundenrekordfahren, Ausscheidungsfahren, Punktefahren. Kleine Rennportionen, um die Zuschauer bei Laune zu halten und die Spannung bis zum großen Finale aufrecht zu erhalten. Abgase wabern über die Bahn bei Derny- und Steherrennen, der Motorengestank zieht hinauf bis zu den oberen Rängen auf der Tribüne. Das Knattern der Motorräder dröhnt durch die Halle. Die Sieger eines jeden Rennens werden mit einer Ehrenrunde und einem Blumenstrauß gefeiert. Dazwischen spielt die Platzl-Oktoberfestkapelle. Atemlos und Tage wie diese. La-Ola beim Balustradensprint und auf der Tribüne. Kinder sitzen auf der Bande im Innenraum und strecken die Hand aus, damit die Fahrer abklatschen.

 

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Die Kinder, die auf der Bande sitzen, strecken die Hand zum Abklatschen aus.

 

Bis in die 1960er Jahre hinein wurden Sechstagerennen noch durchgehend gefahren. Zweier-Mannschaftsfahren, Tag und Nacht, allein durch die Sonntagsruhe auf sechs Tage begrenzt. Unmenschlich. Die Fahrer versuchten mit Drogencocktails, ihre Grenzen zu verschieben. Darunter Kokain, Koffein, Strychnin, Alkohol. Wer in diesen sechs Tagen die meisten Kilometer zurücklegte, hatte gewonnen. Um Rennen auch entscheiden zu können, wenn Teams zum Schluss gleich auf waren, wurde ab den 20er Jahren die Punktewertung eingeführt, die die Rundensammelei ergänzt.

In Zürich bei den Sixdays Nights ist es jetzt nach Mitternacht. Auftakt zum Finale. Ein letztes Madisonrennen über eine Stunde, die große Américaine. Fünf Teams sind in der Nullrunde. Das heißt, sie sind in den letzten Tagen mehr Runden gefahren als alle anderen Teams. Sie haben die größten Chancen auf den Sieg. Startschuss. Die ersten Angriffe. Alle Teams versuchen, vom Feld wegzufahren. Es wird hektisch. Ein heilloses Durcheinander. Wo ist das Feld? Wer ist vorn? Wer hinten? Sobald die Schweizer Teams sich anschicken, einen Rundengewinn zu machen, wird es richtig laut im Hallenstadion. Die eben noch gähnenden Zuschauer wachen wieder auf, erheben sich von den Sitzen. Brüllen. Klatschen. Die Stimme des Hallensprechers überschlägt sich. Noch eine Viertelstunde bis Rennende. Die Ausgangssituation ist wieder hergestellt. Wieder fünf Teams in der Nullrunde. Das Tempo wird hochgehalten. Kaum einer kommt noch vorn aus dem Feld heraus.

 

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Das Feld in Einerreihe auf der Bahn in Zürich.

 

Dann greifen Leif Lampater und Silvan Dillier an. Kämpfen eine gefühlte Ewigkeit und schaffen dann doch ein paar Runden vor Schluss den Rundengewinn, liegen in Führung. Reicht das? Nur noch zehn Runden. Die Halle brodelt. Ein Überrundung ist kaum mehr zu schaffen. Und doch greifen Keisse und Cavendish noch einmal an. Das Feld fährt in Einerreihe, versucht dranzubleiben. Aber das Tempo ist zu hoch, Cavendish und Keisse können sich absetzen und fahren dem Feld immer weiter davon, unaufhaltsam. Der Vorsprung wächst, eine Viertelrunde, eine halbe Runde, gleich sind sie dran am Feld. Kurz vor Schluss ist der Rundengewinn geschafft. Noch ein Tigersprung und die Sieger stehen fest. Iljo Keisse und Mark Cavendish dürfen sich auf die Ehrenrunde begeben und werden mit stehenden Ovationen verabschiedet. Die Zuschauer strömen begeistert plappernd aus der Halle in die kalte Nacht hinaus. Und ich bekomme ein Gefühl dafür, warum der Bahnradsport einmal aus Fahrern Legenden gemacht hat.

 


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Carolyn Ott-Friesl

Seit fast 20 Jahren auf dem Rennrad unterwegs - nicht viel, nicht schnell, aber mit Leidenschaft. Seit 2014 Bloggerin auf Ciclista.net
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Meine Ausrüstung:
Helm* - Brille* - Bluetooth-Kopfhörer* - Radsportbekleidung* - Radsportcomputer*