Stelvio: 48 Kehren, Ortlerblick und dünne Luft – mit dem Rennrad von Prad aufs Stilfser Joch

Urlaubszeit und der Insta-Feed ist wieder voll mit ihnen – den fotogenen Pässen mit der besonderen Anziehungskraft. So wie der Mont Ventoux, der Tourmalet, der Furkapass – und auch das Stilfser Joch gehört dazu. Die berühmten Kehren am Ende des Anstiegs hat man mit ziemlicher Sicherheit schon mal mindestens auf Fotos gesehen und auch beim Giro d’Italia ist der Stelvio ein gleichzeitig geliebter und gehasster Scharfrichter.

Lange, steile Berge sind sicherlich nicht das, was die Natur für meine athletischen Oberschenkel vorgesehen hat. Und der Stelvio ist eindeutig lang. Und steil. Und immerhin der zweithöchste asphaltierte Pass der Alpen nach dem Col de l’Iseran. Aber es hilft nix, ich will da halt auch mal hoch. Da trifft es sich gut, dass der beste Mann der Welt und ich es aus dem bayerischen Inntal nicht weit nach Südtirol haben – die Oma hat auch Zeit, um tagsüber babyzusitten. Ideal! Dann muss ich da schon mal nicht alleine hinauf.


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Fakten zum Stilfser Joch

Passhöhe2757 Meter ü. M.
Anzahl Auffahrten3 (Prad, Bormio, Santa Maria über Umbrail)
Distanz von Prad zur Passhöheca. 25 Kilometer
Höhenmeter von Prad zur Passhöheca. 1850 Höhenmeter
Durchschnittliche Steigung von Pradca. 7,5 %
Wintersperreja, Befahrung meist ab Juni bis Anfang November möglich
KOM-Zeit von Prad*1:10:47 h
QOM-Zeit von Prad*1:28:10 h
*Strava-Segment – Stand 11.8.2023

Von Schenna auf dem Vinschgauer Radweg zum Stelvio

Wir quartieren uns in Schenna ein – ein hübsches kleines Örtchen ganz in der Nähe von Meran. Das Stilfser Joch ist da jetzt nicht direkt nebendran, aber auf jeden Fall erreichbar. Eine ambitionierte Runde mit 170 Kilometern und 2700 Höhenmetern ist das – aber hey, wenn man schon mal eine zuverlässige Babysitterin dabei hat, dann muss man das halt auch ausnutzen 😉

Der Plan: Um spääätestens halb 8 Uhr fahren wir los. Die Realität: Wir schaffen es gerade so vor 9 Uhr aufs Rad. Läuft bei uns.


Mehr Lesestoff rund um das Stilfser Joch

„Radsportberge und wie ich sie sah“ – Geraint Thomas

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„Legendäre Pässe: Radsport-Leidenschaft vom Stilfser Joch bis Alpe d’Huez“ – Frederik Backelandt, David Stockman

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Wir fahren in der Morgensonne hinein und hinaus aus Meran, entlang des Vinschgauer Radwegs. Anfangs noch etwas stressig mit Ampeln und Kreuzungen und Serpentinen, irgendwann geht es dann aber nur noch geradeaus, mit bestem Ausblick dabei. Nachdem das Frühstück nur so semi-ausführlich ausgefallen war, beschließen wir nach etwa einer Stunde, dass da noch ein bisschen nachgelegt werden muss. Zweites Frühstück also, bei mir mit Eis und Cappuccino, der beste Bergfahrer der Welt stellt sich um 10 Uhr morgens erst einmal einen zünftigen Apfelstrudel rein. Sporternährung können wir!

Weiter gehts. Langsam verstehe ich, warum Komoot hin und wieder komische Schleifen in unsere Route geplant hat, weg von der Radroute. Der Radweg hat nämlich ein paar Gravelstücke drin. Wir beschließen, dass wir das schon irgendwie schaffen (nach der Eroica ist mein Schotterselbstbewusstsein um mindestens 300 % gestiegen) und fahren trotzdem durch. Das klappt auch wunderbar, sogar ich komm da meistens problemlos drüber.

Die (E-)Fahrraddichte steigt langsam auf dem Radweg, je mehr es auf Mittag zugeht. Und schneller als gedacht fahren wir schon in Prad ein – der Ort am Fuße des Stilfser Jochs, von dem es dann bergauf geht für die nächsten 25 Kilometer.

Von Prad an geht es bergauf

Noch kurz ein Spezi aus dem örtlichen Spar hinabgekippt, ein aufmunterndes, und doch etwas ängstliches „Na dann, auf gehts. Oder?“ dahergeplappert und schon radeln wir wieder los. Wie viele Radfahrer hier hinaufwollen, sieht man schon an der Straßengestaltung, sobald sich die Straße merklich nach oben neigt. Es gibt eine extra Fahrradspur, die mit Leitplanken von den Autospuren abgetrennt ist. Mit 4 bis 7 Prozent geht es auf wunderbar rollendem Untergrund die ersten Höhenmeter hinauf, entlang des Suldenbachs.

Nach einem flacheren Stück durchfahren wir unverhofft die erste Kehre. Nummer 48 und kurz danach die 47. Na, dann haben wir es ja schon fast geschafft, was?

In der nächsten Kehre, der Nummer 46, liegt das Hotel Bella Vista – „Schöner Ausblick“ – und man muss sagen: Das stimmt. Der Ausblick von Trafoi in die Berge ist wirklich schön. Die Freude darüber hält aber nur kurz, denn dann bin ich mit Schnaufen beschäftigt.

Es wird nun doch langsam anstrengender und der beste Mann der Welt zieht davon. Die folgenden Kilometer verlaufen in einem Waldstück. Die Straße wird schmaler und die Kehren richtig eng. Zu eng für so manche Sportwägen und große Motorräder, die verursachen nämlich hin und wieder ziemlichen Stau, weil sie nicht um die Kurve kommen. Ziemlich ärgerlich – bei 9 Prozent Steigung habe ich echt keine Lust, kurz vor einer noch steileren Kehre abzusteigen.

Aber es geht alles gut – zwei, drei kurze Balanceakte, aber wenigstens muss ich nicht ausklicken. Auch die steilen Rampen bis zu 17 Prozent (laut Wahoo) kriege ich gut weggekurbelt. Mein Optimismus, dass ich es heute noch diese berühmten Pass hinaufschaffe, wächst.

Blick auf das Ortlermassiv

Irgendwann taucht links der Gasthof „Zum weißen Knott“ auf, das Waldstück endet hier und der Blick auf den Ortler wird uns ab sofort auf der linken Seite begleiten. Wirklich beeindruckend! Wer die Trinkflasche nachfüllen muss, findet auf der rechten Straßenseite einen Trinkwasserbrunnen, gegenüber vom Knott. Ich kurble daran vorbei, mache aber danach mal eine kurze Pause, denn da ist der Ausblick nochmal schöner auf das riesige Ortlermassiv.

Ein Biss in den Riegel, ein Schluck aus dem Bidon, mal kurz auf den Tacho geguckt – ja, sind ja nur noch so 1000 Höhenmeter, quasi fast oben. (Nicht. Aaaah.) Weiter gehts und das steil. Zwischen 9 und 13 Prozent, sagt der Bolt. Es sind noch etwa 10 Kilometer bis oben. Das meiste ist also geschafft. Aber ich bins auch langsam.

Die Kehren sind jetzt in der Kurve etwas flacher als weiter unten. Immerhin. Denn dazwischen gibt es kein Erbarmen. Locker kurbelt hier niemand mehr.

Von Kehre zu Kehre zu Kehre

Das Treten wird langsam meditativ – aber plötzlich ist da wirklich der Stelvio vor mir, den ich von den Fotos kenne. Ein Asphaltband, das sich wunderschön diesen Berg hinaufschlängelt. Surreal und wirklich spektakulär. So weit sieht es jetzt gar nicht mehr aus, aber viel übrig habe ich jetzt auch nicht mehr in meinen Beinchen.

In meinem Kopf beginnt jetzt die Rechnerei. Wenn nix mehr geht, teile ich mir die verbleibenden Höhenmeter immer in Einheiten unseres Hausbergs auf. Den Sudelfeldpass. Von Bayrischzell sind es etwa 400 Höhenmeter. Und die schaffe ich immer, sogar mit Hunger. Das heißt, knapp zwei Sudelfelds schaffe ich auch. Und die habe ich jetzt noch in etwa vor mir.

Aber erst einmal eine kurze Pause in einer der Kehren. Und upsi, beim Absteigen wird mir ganz kurz schwarz vor Augen. Ist das schon die Höhe? Immerhin sind wir jetzt doch schon über 2000 Metern.

Weiter gehts. Die Kehrennummern werden mit aufreizender Langsamkeit kleiner. Zwischen Kehre 15 und 14 noch einmal ein Tankstopp – noch kurz die Trinkflaschen am etwas versteckten Brunnen mit gutem Stelvio-Wasser auffüllen.

Von jetzt an ist es wirklich hart. Kehre um Kehre schraube ich mich nach oben. Ich habe im Kopf noch das Zitat von Dan Martin aus seinem Buch „Von Pandabären verfolgt„*, das ich auf der Anreise gelesen habe: „einfach von Kurve zu Kurve springen, wie ein Flipperball“. Ich sage mal so: Dieses Vorhaben gelingt mir so mittelgut. Ich bin eher eine sehr langsame Schildkröte auf sehr klebrigem Untergrund.

Und mein Kreislauf macht schon wieder Sachen. Meine Kopfhaut zieht sich unter dem Helm ganz komisch zusammen. Was ist das denn? Naja, besser nochmal ganz kurz anhalten, bevor ich hier gleich die sterbende Schildkröte auf dem Rad mache.

Ich traue mich erst gar nicht, mich auf die Steinmauer in der Kehre zu setzen, aus Angst, vor lauter Kreislauf einfach nach hinten zu fallen. Aber ein, zwei Minuten später gehts wieder. Zwischendrin traue ich meinen Augen kaum, als ein kleines Kind – vielleicht fünf Jahre alt – mit dem Anweisung gebenden Vater im Schlepptau die Kehren hinabfährt. Verrückt.

Noch ein Sudelfeld. Also 400 Höhenmeter. Das werde ich ja wohl jetzt noch schaffen, nach den 2000 bereits absolvierten Höhenmetern.

Ich fröstle langsam und das ist ausnahmsweise nicht vom Kreislauf. 15 Grad sagt der Bolt noch – nach den 36 Grad im Tal darf man da kurz frösteln. Von Kehre zu Kehre zu Kehre zu Kehre. Argh, es wird irgendwie nicht einfacher!

Die Kehrennummern werden einstellig. Dann sind es noch sechs. Noch fünf. Noch vier. Und in Kehre drei muss ich nochmal ausklicken. Das gibts ja nicht, wie leer können Beine sein? So ein Hundling von Berg! Ein weiterer Radler bleibt da kurz nach mir auch stehen. Er ist aus London. „It’s so hard to breathe“ – mein Kreislauf nickt.

So, jetzt aber. Die drei Kehren werde ich ja gerade noch schaffen, wär ja gelacht! Zwei Kerle im Jumbo Visma Trikot sind jetzt vor mir. Sie haben Fans dabei. Und zwar sehr engagierte. So engagiert, dass zwei von ihnen die letzten Kehren zu Fuß mitsprinten und fotografieren und die anderen Fans mich beinahe mit dem Auto erwischen. Grrr. Also Herausforderung hab ich eigentlich gerade genug.

Da ist das Passschild – gerade noch so zu erkennen unter den vielen Aufklebern. Haha! HAHA! Ich bin oben! Und auf 2700 Metern findet man direkt alles, was man halt so braucht: vier Würstlstände, eine Pizzeria, ein Souvenirshop, eine Bank, viele Menschen – und einen frierenden besten Mann der Welt, der sich schon ein Semmerl mit Sauerkraut und Senf einverleibt hat und darauf wartet, dass ich endlich zu Ende fotografiere.

Der Ausblick ist wirklich beeindruckend, eine so rohe Berglandschaft und dann diese Insel von Zivilisation mit buntem Treiben mittendrin. Verrückt!

„Kommst Du dann?“ Na gut. Also pfriemele ich die Jacke aus der Trikottasche, werfe sie mir um und ab geht die wilde Fahrt.

Abfahrt vom Stelvio über den Umbrailpass

Wer mich kennt, weiß, dass die wilde Fahrt bergab bei mir meistens nicht so richtig wild ist. Die Abfahrt ist jedoch wirklich angenehm zu fahren, auch für Angsthasen wie mich – kein Vergleich zum Großglockner, bei dem meine Bremsen irgendwann verschmort gerochen haben und ich wirklich daran gezweifelt habe, dass ich es lebend runterschaffe.

Nach einigen Minuten frösteliger Abfahrt kommen wir an eine Abzweigung, an der wir entweder nach Bormio oder Richtung Schweiz fahren können. Wir entscheiden uns für die Schweiz und bekommen nach wenigen Höhenmeterchen einen Grenzübertritt und den Umbrailpass quasi geschenkt. Einige Serpentinen und eine nicht allzu steile Abfahrt später sind wir in Santa Maria im schweizerischen Münstertal.


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„Hast Du Deinen Pass dabei?“, fragt der beste Mann der Welt. Nein, natürlich nicht – aber die werden ja hoffentlich die vielen kaputten Radfahrer mit Stelviohintergrund schon wieder problemlos in die EU lassen, hoffe ich. Und die Hoffnung ist berechtigt, wir werden einfach durchgewunken an der Grenzstation. Hin und wieder darf man auch mal Glück haben. Ein Glück ist auch die breite Straße, die wir jetzt einfach runterrollen können, zurück auf italienischem Gebiet.

In Glurns gönnen wir uns noch einen Stopp an der Eisdiele (wir hatten etwas Angst, uns das in der Schweiz nicht leisten zu können 😛 ) und etwas zu trinken, bevor wir wieder auf den Vinschgauer Radweg einbiegen.

So, dann haben wir jetzt noch ca. 60 Kilometer vor uns. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob ich noch Lust auf den ganzen Weg habe, und glücklicherweise fährt genau auf der Strecke auch die Vinschgau-Bahn. Leider aber ist der Fahrplan nicht auf unserer Seite. Also rollen wir doch den gesamten Weg zurück – über die Gravelpassagen, durch Obstplantagen, kleine Orte, durch Meran und schließlich nach Schenna. Ein Glück, dass man sich in einer Ferienwohnung seeehr viel Pastanachschlag holen kann, ohne doofe Blicke von anderen Menschen. 😛

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Stelvio – nicht zu unterschätzen und eine Reise wert

Ich habe erwartet, dass es hart wird – und das war es auch. Für meine Verhältnisse war ich eigentlich richtig gut vorbereitet: Ich hatte schon einige Höhenmeter in den Beinen, das Gewicht passte auch – aber was mir dann auf den letzten Kilometern den Rest gegeben hat, war die Höhe. Das darf man wirklich nicht unterschätzen und jeder Körper reagiert da anders.

Nicht nur die Höhe, auch die Länge des Passes sollte man immer im Hinterkopf haben – auch, wenn es also unten noch gut rollt: immer gut die Kräfte einteilen. Man wird sie oben noch brauchen!

Gut, es muss jetzt auch nicht jeder unbedingt das Stilfser Joch im Rahmen einer 170-Kilometer-Tour machen, das kann man auch etwas ressourcenschonender gestalten. Aber für uns hat es gepasst. Wir wollten etwas erleben, wenn wir schon einmal die Möglichkeit haben, einen ganzen Tag zusammen zu fahren. Wir haben uns ganz bewusst dafür Zeit genommen, ohne Eile und ohne Druck. Und wir wurden belohnt mit einem wirklich eindrücklichen Abenteuer.

Sollte man also da hoch? JA! Das Stilfser Joch ist auf jeden Fall eine Tour wert. Bei aller Schinderei sollte man sich immer wieder bewusst die Zeit nehmen, den Ausblick wahrzunehmen. Solche alpinen Welten sieht man wirklich nicht alle Tage. Dann noch was zum Anziehen für die Abfahrt mitnehmen und schon kanns losgehen (und bitte nehmt Euren Müll wieder mit – viel zu viele Riegel- und Gelpackungen lagen auf und an der Straße herum!) – viel Spaß beim Quälen!

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Carolyn Ott-Friesl

Seit fast 20 Jahren auf dem Rennrad unterwegs - nicht viel, nicht schnell, aber mit Leidenschaft. Seit 2014 Bloggerin auf Ciclista.net
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Helm* - Brille* - Bluetooth-Kopfhörer* - Radsportbekleidung* - Radsportcomputer*

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