âKomm, hol das Lasso rausâ schallt es mittags durch das Festzelt – nur eben in der belgischen Version „Kom pak je lasso maar“, die sich genauso lĂ€cherlich anhört wie die deutsche. AprĂšs-Ski ohne Ski, dafĂŒr mit viel Matsch auĂenrum. Der Fanclub von Mathieu van der Poel schunkelt und singt lautstark mit, wĂ€hrend wir unser Bier holen und die U23-Fahrer auf der Strecke hinter dem Absperrgitter mit dĂŒnnen Reifen durch den knöcheltiefen Dreck pflĂŒgen.
So sieht sie also aus, die typisch belgische WinterwochenendbeschĂ€ftigung: Bier, Fritten, Matsch, Cyclocrossrennen. Wie wunderbar! Ich darf auf Einladung des belgischen Sportbekleidungsherstellers Bioracer dabei sein beim Vlaamse Druivencross Overijse, „de moeder van alle crossen“ – der Mutter aller Crossrennen. Denn hier fing 1960 alles an mit diesem verrĂŒckten Wintersport in Belgien.
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Wintereinbruch in Overijse
Die Autofahrt vom Flughafen Köln/Bonn nach Overijse gibt uns bereits eine Idee davon, was uns bzw. die Athleten beim Rennen erwartet. NĂ€mlich ein Wintereinbruch vom Feinsten â mit 50 km\h schleichen wir ĂŒber die Autobahn bei geschlossener Schneedecke. Dass belgische Autofahrer nicht so wahnsinnig oft mit Schnee in BerĂŒhrung kommen, bekommen wir in den 20 Minuten auf der LandstraĂe mit, die wir gefĂŒhlt knapp ĂŒber Schritttempo hinter einem Kleinwagen verbringen.
Angekommen in Overijse werden unsere Erwartungen nicht enttĂ€uscht. Die Rennstrecke hat sich mit den ersten Nachwuchsrennen bereits in ein einziges Schlammloch verwandelt. Entsprechend sehen die U23ies, die gerade die letzten Runden in Angriff nehmen, schon aus wie nach einer ausgiebigen, aber etwas spaĂfreien Fangobehandlung.
Es sind noch nicht allzu viele Zuschauer da, die Gelegenheit nutzen wir erst einmal fĂŒr original belgische Frietjes (Fritten) und GlĂŒhwein, zum AufwĂ€rmen. Nicht nur davon fangen meine Augen an zu glĂ€nzen, denn Kameraleute auf Podesten an der Strecke schwenken unermĂŒdlich ihre AufnahmegerĂ€te auf das Renngeschehen. Cyclocross in Overijse, obwohl auf dem Papier kein wirklich wichtiges Rennen, wird nĂ€mlich live im Fernsehen ĂŒbertragen. Wie cool ist das denn? Kann ich das zuhause auch haben, bitte? Rosenheimer Crossrennen in der Sportschau, das wĂ€r doch was!
Gummistiefel wÀren die richtige Wahl gewesen
Am stetig wachsenden Besucherstrom merkt man, dass die Hauptrennen der Damen und Herren nĂ€her rĂŒcken. Der Schlamm breitet sich jetzt auch abseits der Strecke aus. Was mal eine vom Schnee angezuckerte Wiese war, wird langsam aber sehr sicher zu dickflĂŒssiger brauner SoĂe. Ich habe zwar feste Schuhe dabei, unter solchen Extrembedingungen ist mein Vertrauen etwas limitiert. Also ziehe ich mir noch PlastiktĂŒten ĂŒber die Socken in die Schuhe, damit wenigstens die FĂŒĂe trocken bleiben. Die Belgier, natĂŒrlich alle optimal mit kniehohen Gummistiefeln ausgerĂŒstet, lĂ€cheln amĂŒsiert bei diesem Anblick. âOriginellâ, grinst eine Dame im Vorbeigehen und stapft weiter durch den Matsch.
Das Damenrennen beginnt. HochkarĂ€ter wie Pauline FĂ©rrand-Prevot und Cross-Weltmeisterin Sanne Cant sind dabei. Die Zuschauer kennen jede Fahrerin beim Namen und feuern leidenschaftlich an. So leidenschaftlich das mit einem Bier in der Hand eben geht, ohne es zu verschĂŒtten.
Das Feld zieht sich gleich in der ersten Runde stark auseinander. Die schlammigen VerhĂ€ltnisse zeigen gleich in den ersten Minuten, wer mit fahrtechnischem Können gesegnet ist und wer eher weniger. Wer das Schlamminferno fahrend hinter sich bringt oder laufend und rutschend. Die Zuschauer wissen genau, wo es spektakulĂ€r werden könnte, daher stehen sie an den schlammigsten Abfahrten und SchlĂŒsselstellen in Dreierreihen an der Strecke.
Pauline Ferrand-Prévot dominiert das Rennen
Die Stimmung ist auffĂ€llig gut unter den Athletinnen. Da wird immer wieder zwischendurch gelĂ€chelt, wenn der eigene Name fĂ€llt und wer im Dreck landet, lacht sich meist selbst am meisten darĂŒber kaputt. Sehr sympathisch! Von den Belgiern werden die Frauenrennen momentan als attraktiver betrachtet, weil bei den MĂ€nnern sowieso immer nur Mathieu van der Poel gewinnt.
Obwohl sie eines der ersten Crossrennen seit zwei Jahren bestreitet, dominiert Pauline Ferrand-PrĂ©vot das Rennen. Von oben bis unten in Matsch gehĂŒllt fĂ€hrt sie jubelnd ĂŒber die Ziellinie. Uff, das war aufregend. Erstmal noch ein GlĂŒhwein fĂŒr uns, zur Beruhigung.
Die Temperaturen sind inzwischen auf 5 Grad gestiegen. Vom Schnee ist fast nichts mehr zu sehen, dafĂŒr umso mehr von nassem Erdreich. Vor dem Beginn des MĂ€nnerrennens fĂŒllt sich der Streckenrand stetig mit jungem Partyvolk, das oft betrunken, aber immer freundlich, nie aggressiv daherkommt.
Weltklassesport als Volksfest
Welch groĂe Bedeutung dieser Sport hierzulande hat, sehen wir auch an den vielen Fanclubs. Jeder Belgier scheint einem anzugehören und es sieht aus, als hĂ€tte jeder einzelne Fahrer seinen eigenen Supportersclub. Neben auch mir bekannten Namen wie van der Poel oder Pauwels stehen auf den meisten Winterjacken und Fahnen Namen, von denen ich noch nie gehört habe.
Trotzdem hat das hier nichts zu tun mit ĂŒbertriebenem Fantum. Die Zuschauer freuen sich, wenn ihr Star vorbeiradelt, wenn sie ihm aber auĂerhalb des Rennens begegnen, ist da nichts aufdringliches oder aufgeregtes. Weltklassesport mit der AtmosphĂ€re eines entspannten Volksfests.
Bei den Herren des Cyclocross ist die Stimmung jedoch merklich angespannter als bei den Frauen, da lĂ€chelt keiner wĂ€hrend des Rennens, voll fokussiert. Sie stĂŒrzen sich auch wagemutiger die AbhĂ€nge hinunter. Wo man bei den Damen noch das ein oder andere Zögern sah, wird bei den MĂ€nnern einfach im Schuss die kĂŒrzeste Linie genommen. Unglaublich, bei welchen Bedingungen die Profis sich auf den RĂ€dern halten können.
Bereits kurz nach dem Start steht fest, wer hier gewinnt. Mathieu van der Poel im Trikot des Cyclocross-Europameisters zieht alleine vor dem Feld seine Runden. Nach kurzer Zeit wird es wegen des Drecks fĂŒr uns jedoch echt schwierig, die Verfolger voneinander zu unterscheiden. Damit haben die routinierten Belgier gar keine Probleme. Die kennen ihre Cross-Pappenheimer.
Belgische Radsportkultur – beneidenswert
Von einem der Zuschauer werde ich (wahrscheinlich ob meiner staunenden Blicke) gleich als Touri erkannt und gefragt, ob ich extra fĂŒrs Crossrennen aus Deutschland angereist sei. „Ja klar!“, sage ich und ernte einen nach oben gereckten Daumen und ein stolzes LĂ€cheln.
Mathieu van der Poel fĂ€hrt das Rennen souverĂ€n nach Hause, die Verfolger werden fleiĂig angefeuert wĂ€hrend der letzten Runde. Wir kĂ€mpfen und flutschen durch Matsch und GestrĂŒpp noch einmal zum letzten Anstieg der Strecke und sind mitgerissen von der Begeisterung. Auf einem der GroĂbildschirme entlang der Strecke können wir sogar den Zielsprint direkt miterleben.
Schon ist alles vorbei und ich bin ein bisschen traurig darĂŒber. Zusammen mit den anderen Zuschauern schliddere ich hinab Richtung Ausgang, eine Hand immer an der Streckenabsperrung, damit ich nicht vollends im Dreck lande. Wir sind uns einig: Eine solche Radsportkultur sollte es ĂŒberall geben. Warum haben das andere LĂ€nder noch nicht verstanden?
Auf dem RĂŒckweg zum Auto besprechen wir die Highlights der Rennen und vergleichen, wer den meisten Matsch in den Schuhen hat. Dabei kommen wir an einem Seniorenheim vorbei, durchs Fenster sieht man in den Aufenthaltsraum. Im Fernsehen lĂ€uft, na klar, gerade die Siegerehrung des MĂ€nnerrennens, die nur wenige hundert Meter entfernt stattfindet. Hach, so ein bisschen Belgien wĂŒrde ich gerne nach Hause mitnehmen.
Transparenzhinweis: Alle Kosten der Reise wurden von Bioracer ĂŒbernommen.
Carolyn Ott-Friesl
Seit fast 20 Jahren auf dem Rennrad unterwegs - nicht viel, nicht schnell, aber mit Leidenschaft. Seit 2014 Bloggerin auf Ciclista.net
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Meine AusrĂŒstung:
Helm* - Brille* - Bluetooth-Kopfhörer* - Radsportbekleidung* - Radsportcomputer*